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Ein Wanderschäfer im Internet

Crowdfunding für eine lebenswerte Schäferei

Wenn Wanderschäfer Sven de Vries zwitschert, plaudert er keine Geheimnisse aus, sondern kämpft auf Twitter und Co.  für eine lebenswerte Schäferei und faire Wollpreise.  Dank eines Crowdfundings gelang es ihm, seinen Gewinn zu verzehnfachen. Was steckt hinter diesem Erfolg?
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Die Schafe verbringen ihr ganzes Leben unter freiem Himmel.
Die Schafe verbringen ihr ganzes Leben unter freiem Himmel.THERESA PETSCH
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Zwischen Ehingen und Laupheim zündet sich Wanderschäfer Sven de Vries erstmal eine Zigarette an. Normalerweise ist er um 10 Uhr morgens längst unterwegs mit seiner Herde. Jeden Tag. Bis es dunkel wird. Dann sperrt er die Schafe ein und fährt nach Hause zu seinem Bauwagen. Heute warten er, 640 Schafe, 20 Ziegen und seine Altdeutschen Hütehunde auf einem Feld an der Donau auf – mich. Ich bringe mit meinem Besuch den Tagesablauf durcheinander.

„Jetzt im Winter ist eine schöne Zeit, weil wir so früh Feierabend haben", sagt de Vries. Abends zündet er den Ofen an und hat Zeit, etwas zu kochen und Texte für seine Internetseite zu schreiben. Zwei bis drei Stunden täglich verbringt er im Web, vor allem in den sozialen Netzwerken. Danach ist Schluss. Der Akku seines Laptops hält nicht länger. Dann ist es wieder Zeit für einen Besuch bei der Freundin, die ihren Strom mit ihm teilt. Für eine Solaranlage auf dem Bauwagendach reichte das Geld noch nicht.

Sechs Jahre ist der Wanderschäfer schon in den sozialen Medien aktiv. Seit er mit Schäfer Max Frankenhauser und Leitschaf Paula zusammenarbeitet, nennen sie sich „Paula & Konsorten". Auf Facebook, YouTube, Instagram, Twitter und seinem Blog schafzwitschern.blog spricht und schreibt der Wanderschäfer sehr offen über seine Sicht auf die Schafhaltung. „Es ist nicht immer so leicht, sein Innerstes vor 2.500 oder 5.000 Leuten nach außen zu kehren, wenn es einem nicht so gut geht oder man Stress hat", sagt er. „Das ist auch ein Haufen Arbeit!"

Der Beginn eines Umbruchs

Die Menschen, die ihn aus den sozialen Medien kennen, schätzen seine Authentizität. Die mediale Reichweite des bloggenden Wanderschäfers verhalf auch einer Idee zum Erfolg, die 2020 den ganzen Betrieb umkrempelte.

Alles begann damit, dass die beiden Schäfer ihre Altschafe nicht mehr an den Viehhändler verkaufen wollten. Sie suchten sich einen Metzger, der die Tiere verarbeitete und verkauften die Wurst über den Onlineshop auf ihrer Webseite. Die ersten zehn Schafe waren nach 24 Stunden ausverkauft. Die zweiten zehn auch. Um einen Betrieb mit zwei Schäfern am Laufen zu halten, genügte das allerdings noch nicht. „Also habe ich gesagt, komm wir gehen das jetzt mit der Wolle an", erinnert sich de Vries. Wie beim Fleisch wollte er aber auch bei der Wollverarbeitung bis zum Endprodukt mitbestimmen. Ein Crowdfunding sollte das möglich machen.

Am 21. Juli 2020 starteten Paula & Konsorten auf der größten deutschen Crowdfunding Plattform startnext.de den Versuch, einen fairen Preis für ihre Schafwolle zu bekommen. Die Wolle ihrer Merino Landschafe hatten sie bislang immer an den Wollhändler verkauft. Für die relativ feine Wolle bekamen sie einen guten Preis, der trotzdem zum Leben nicht reichte. Geld verdienten sie fast ausschließlich mit Landschaftspflege. „Man wird mit Wolle im Normalfall nie wieder groß etwas verdienen können", bestätigt de Vries. Auch deshalb war er selbst vom Erfolg des Crowdfundings überrascht.

Das Crowdfunding ist ein Erfolg

30 Tage hatten sie, um das erste Umsatzziel von 35.000 Euro zu erreichen. „Nach vier Tagen war das schon fertig!", erinnert sich de Vries. Auch das zweite Ziel von 75.000 Euro war im Nu übertroffen.

Einen Monat später zogen die Schäfer eine beachtliche Bilanz: Die Projektseite zählte zwischen 120.000 und 130.000 Besucher. 1.200 hatten ihr Anliegen unterstützt. Die Krombacher Brauerei förderte sie über das Cofunding-Projekt „Krombacher Naturstarter" und legte auf jeden Euro, der über das Crowdfunding eingenommen wurde, 25 Cent drauf.

Insgesamt kamen so 140.000 Euro zusammen. Das klingt viel. Trotzdem bleibt der Gewinn für das Unternehmen überschaubar. „Man kann nicht in Deutschland Produkte herstellen, sie zu einem halbwegs annehmbaren Preis verkaufen und damit auch noch richtig Kohle verdienen", ist de Vries überzeugt. Es ist teuer, die kleinen Mengen Wolle verarbeiten zu lassen.

Mit seinen Geschäftspartnern feilscht er nicht um den Preis. „Die sagen uns, was sie brauchen, um davon gut leben zu können", erklärt er. Schließlich hätte es ihn auch immer „angekäst", wenn ihm für seine Lämmer ein so niedriger Preis angeboten wurde, dass keine oder nur eine winzige Gewinnspanne blieb. „Ich dachte, verdammt nochmal, da steckt doch die gleiche Arbeit drin! Ich muss ja auch davon leben."

Wandern, um zu überleben

Die Fläche, auf der die Schafe und Ziegen die letzte Nacht verbracht haben, gehört einem Landwirt. Der hat nicht viel davon, wenn die Schafe seine Fläche kreuzen. Der früher begehrte Dung hat seine Bedeutung an den Mineraldünger abgetreten. „Ich bin sehr dankbar, dass die meisten Landwirte nichts dagegen haben, dass wir kommen. Wir sind Gast mit unserer Herde und wollen nichts kaputt machen", betont de Vries. Sollten seine Tiere doch mal Schaden anrichten, kommt er dafür auf. Einen kleinen Bonus bringen die Schafe dem Landwirt heute aber doch: Nach dem Wühlmausjahr 2020 hat die Herde die vielen Gänge platt getreten.

Da sie weder Stall noch Koppelflächen besitzen, müssen sie jeden Tag weiterziehen. Jeden Morgen planen die beiden Schäfer die Tagesroute. Jetzt im Winter müssen sie Schnee und Wind ausweichen. Trocken und windgeschützt halten die Schafe auch minus 25 Grad Celsius aus. Den Ziegen wird es schneller ungemütlich. Sie kommen bei Freunden im Stall unter, wenn es zu kalt wird. De Vries kennt inzwischen jeden Winkel und weiß, welches Kleinklima in den Tälern der Region herrscht.

Die Verantwortung für die Herde, seine "Mädels”, liegt de Vries am Herzen. So lange hat ihn noch kein Beruf begeistert. Nach dem Schulabbruch testete er sich durch viele Branchen – von der Gastronomie bis hin zum Weihnachtsmann. Mit 27 Jahren begann er in der Schäferei seine erste Ausbildung auf einem oberschwäbischen Betrieb, von dem er später auch die Herde übernahm.

Transparenz und Vertrauen

De Vries ist bewusst, dass er im Rahmen des Crowdfundings einen ungewöhnlich hohen Preis für seine Wolle verlangt. Deshalb will er alles richtig machen. Die Kunden sollen zufrieden sein. Schließlich sei es ein Zeichen von Wertschätzung für seine Arbeit, wenn sie die Produkte kaufen. „Ich meine, das ist geiles Zeug! Aber Wertschätzung ist immer etwas, was auf Gegenseitigkeit beruht", findet er.

Deshalb macht er alle Entscheidungen transparent und bezieht die Kunden ein. Zu jedem Paket erklärt er in einem Brief, was für Gedanken hinter dem Produkt stehen und holt sich Feedback.

Zum Beispiel bot er die Schafwurst anfangs in Dosen an. Bald fragte er sich, was ökologischer ist: Dose oder Glas. Also las er Studien und rechnete. Ergebnis: Glas und Dose nehmen sich nicht viel, außer die Gläser fassen mehr. Einfach auf Gläser umzustellen, war allerdings keine Option. De Vries fragte zunächst bei den Kunden nach, ob sie statt 200 Gramm in der Dose auch 300 Gramm im Glas nehmen würden. Er testete sogar vorher in der Spülmaschine, ob die Deckel noch riechen und sich wiederverwenden lassen. Hinter dieser Philosophie vermutet er auch den Grund, weshalb die Kunden seine Produkte kaufen.

Die den Unterstützer*innen des Crowdfundings versprochenen Produkte konnten erst nach der Aktion produziert werden: Strickwolle, Flockenwolle, kardierte Wolle, Stepp- und Kuscheldecken. Eine Vorproduktion ließ die finanzielle Lage der Schäferei nicht zu.

Entsprechend war de Vries nach dem Crowdfunding für den Rest des Jahres damit beschäftigt, die Verarbeitung der Wollprodukte zu organisieren. Spinnerei, Färberei und schließlich auch die „richtigen" Farben galt es, zu finden. „Wir arbeiten daran, dass unsere Produkte geil sind. Dann müssen wir den Leuten auch keinen Mist erzählen", erklärt de Vries stolz. Die erste Probefärbung der Strickwolle sei zu „bonbonmäßig" ausgefallen. Also wurde weiter getestet, bis alles passte – obwohl das Zeit kostete. Inzwischen sind, bis auf die Strickwolle, alle Bestellungen verschickt. Das Feedback der Kunden gibt seiner Philosophie Recht: „Die Leute sind begeistert!"

Dank der großen Unterstützung hat die Schäferei nun die Chance, die Herstellung dieser Produkte im nächsten Jahr vorzufinanzieren. „Wenn das Auto hält", schränkt de Vries gleich ein. Dann will er die Wollartikel über seinen Onlineshop verkaufen.

Crowdfunding passt nicht zu jedem

Nur die große Reichweite von Paula & Konsorten in den sozialen Medien machte den Erfolg des Crowdfundings möglich. „Ich kann ja nicht einfach einen Shop ins Internet stellen und einfach mal Schafwurst verkaufen. Ehe Leute die Seite finden und auch noch was kaufen – das dauert!", erklärt de Vries.

Sein technisches Verständnis erleichterte es ihm, ins Online-Business einzusteigen. So konnte er Kundenbestellungen direkt in eine Exceltabelle einfließen lassen, die wiederum direkt an den Paketlabeldrucker angebunden war. Nur so war es den zwei Vollzeitschäfern möglich, neben dem täglichen Geschäft 2000 Pakete an die Unterstützer*innen des Crowdfundings zu versenden.

Jetzt, nach dem erfolgreichen Crowdfunding, kann er den Onlineshop ausbauen und sich Unterstützung für die Vermarktung holen. An solche Investitionen war lange nicht zu denken. „2019 hatten wir 500 Euro übrig", beschreibt de Vries die damalige Lage. Mit der neuen Stelle werden die beiden Schäfer Zeit für ihren Betrieb gewinnen. In dem halben Jahr, das er zur Vorbereitung des Crowdfundings benötigte, musste de Vries die Herde häufig seinem Kollegen überlassen. Zu häufig, findet der Wanderschäfer.

Eine lebenswerte Schäferei

De Vries liebt es, mit seiner Herde über die Wiesen zu ziehen. Deshalb setzt er sich für eine lebenswerte Schäferei ein. Eine Schäferei, von der er leben, seine zukünftige Familie ernähren und sich ein Solarpaneel auf dem Bauwagen leisten kann. Eine, in der es auch mal freie Tage gibt. Denn vor zwei Jahren gipfelte die Belastung, allein für die große Herde verantwortlich zu sein, im Burnout.

Wie es scheint, hat er nun den richtigen Weg eingeschlagen. Seit er und Max Frankenhauser sich die Arbeit teilen, hat jeder Schäfer alle zwei Wochenenden frei. Es ist sogar möglich, in den Urlaub zu fahren. „Das hatte ich selbst in meiner Lehre nicht. Das gibt es auch in den wenigsten Betrieben. Aber das ist einfach toll!", findet de Vries. So bleibt auch mal Zeit, Projekte wie das Crowdfunding zu starten und den Betrieb fit für die Zukunft zu machen. Der Grundsatz lautet seither „zwei Leute für die Herde".

Wenn de Vries heute vor seinen Tieren steht, kann er sich auch vorstellen, mit der Schäferei alt zu werden.

Er öffnet den Zaun, hinter dem die Herde unruhig wartet. Es ist beinahe Mittag und an der Zeit, weiterzuziehen. Innerhalb weniger Minuten ist er mit 640 Schafen und 20 Ziegen verschwunden – irgendwo zwischen Ehingen und Laupheim. | tp

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Was ist Crowdfunding?

Crowdfunding lässt sich mit Gruppenfinanzierung übersetzen. Kapitalgeber für diese Art der Finanzierung sind in der Regel „normale" Internetnutzer, die von der jeweiligen Geschäftsidee, dem Produkt oder Projekt überzeugt sind. Die Initiatoren stellen ihre Ideen mit Videos, Bildern und Texten auf Crowdfunding-Plattformen wie startnext.de vor. Häufig basiert der Erfolg solcher Aktionen auf einer großen Reichweite, also darauf, dass viele Internetnutzer die Initiatoren bereits aus den sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram kennen. Die Unterstützer*innen erhalten für ihr Darlehen ein „Dankeschön" – zum Beispiel in Form eines Produkts, das sie mit ihrem Kapital unterstützen. Wer sich über Crowdfunding informieren will, findet unter www.crowdfunding.de hilfreiche Tipps.

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