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Muttergebundene Kälberaufzucht

An der natürlichen Milchtankstelle

Auf dem Hofgut Rengoldshausen in Überlingen am Bodensee wachsen Kälber bei ihrer Mutter auf. Ein Aufzuchtverfahren, das auf Beziehung statt Trennung setzt.
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Der hohe Milcheinsatz ist für
Mechthild Knösel kein Nachteil,
denn er sorge für eine frühe und
gute Entwicklung der Jungiere.
Der hohe Milcheinsatz ist für Mechthild Knösel kein Nachteil, denn er sorge für eine frühe und gute Entwicklung der Jungiere.Petra Ast
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Hyazinthe liegt an diesem heißen Julitag friedlich dösend in seiner Strohbucht. Neben ihm liegen mehrere gleich alte Kälber in dem weitläufigen, luftigen Abteil. Drei Monate lang hat das Jungtier an seiner Mutter gesäugt. Inzwischen sieht das Braunviehkalb seine Mutter Helena nur noch abends und kann dann einige Zeit an ihr säugen. Tagsüber übernehmen das inzwischen die „Tanten“, die Kuhmütter von kleineren Kälbern in der Kuh-Kälbergruppe.

Bis zum endgültigen Absetzen mit vier Monaten wird sich das Kalb diese abendliche Milchmahlzeit dann auch nicht mehr bei seiner leiblichen Mutter abholen können. Kurz vor Ablauf der letzten vier Wochen gibt es die begehrte Milch noch einmal am Tag von einer der anderen Kuhmütter in der Gruppe. Danach ist Schluss mit der natürlichen Milchtankstelle.
„Mit der üblichen Kälberhaltung hat dieses Verfahren nur wenig zu tun“, sagt Mechthild Knösel lächelnd in Richtung des Kalbes, das demnächst ganz abgesetzt werden soll. Die Betriebsleiterin hat für den Milchvieh-Bereich des Demeter-Hofgutes bei Überlingen am Bodensee ein ausgeklügeltes System entwickelt. In den vergangenen zwölf Jahren hat sie das Verfahren der muttergebundenen Kälberaufzucht immer weiter entwickelt. Was für Kalb Hyazinthe gilt, gilt inzwischen für alle Kälber des Betriebes. „Einfach weil wir damit die besten Erfahrungen machen“, erläutert Knösel.

Stressfreier Start ins Kälberleben

Die vier Monate Aufzucht folgen dabei einer genau durchgetakteten Choreographie: So verbrachte das jetzt drei Monate alte Kalb die ersten 24 Lebensstunden mit seiner Mutter in einer separaten Abkalbebucht. Danach ging es für die beiden in die Kuh-Kälbergruppe. „Dort bleiben Muttertiere und Nachwuchs einen Monat lang“, erklärt die Milchviehhalterin. Nur zu den Melkzeiten verlassen die Kühe in dieser Phase die Gruppe.

Die nächsten beiden Monate leben die acht bis zwölf Wochen alten Kälber in einer eigenen Jungtiergruppe. Dort kommen regelmäßig ihre Mütter hinzu, damit die Kälber an ihnen saugen können. Anschließend melken Knösel und ihre Mitarbeiter die Kühe. Im vierten Monat dürfen die Kälber dann nicht mehr an der eigenen Mutter saugen. Das ist jetzt nur noch an einer der anderen Kuhmütter möglich, so wie es aktuell das Kalb Hyazinthe erlebt. „Es darf jetzt jeden Tag ein wenig später zu den Tanten“, erläutert die Demeter-Landwirtin. Warum das so ist? Durch die immer kleineren Milchgaben, so die Erfahrung von Knösel, setzen sich die Kälber „quasi selbst ab“.

Allerdings, das räumt sie ein, komme das dicke Ende dann doch noch. „Den Trennungsschmerz komplett elimieren, können wir nicht. Aber inzwischen gehen wir anders damit um und setzen das Kalb nicht zeitgleich von der Mutter und der Milch ab. Die Übergänge sind sanfter.“ Anders als früher, als sie sich immer die Ohren zugehalten habe, um das Schreien von Kühen und Kälbern bei der Trennung nach der Geburt nicht hören zu müssen. Irgendwann fiel deshalb der Entschluss, so nicht mehr weiter zu machen. „Die Kälber so früh zu separieren, entsprach nicht mehr meinen Vorstellungen von einer artgerechten Aufzucht“, sagt die 39-jährige Landwirtschaftsmeisterin.

Die Umstellung verlief nicht sofort reibungslos

Eine Idee davon, wie diese komplett andere Aufzucht funktionieren könnte, hätte sie zwar gehabt. Allerdings zeigte sich, als sie 2006 damit begannen, dass nicht sofort alles reibungslos vonstatten ging und sich Kühe und Kälber ohne Umschweife in das neue System einfinden. Vielmehr ging es anfangs darum, sich in die Kühe und ihren Nachwuchs hinein zu versetzen, um zu verstehen, dass die sensiblen Tiere Zeit benötigen, um sich auf das ungewohnte Miteinander zwischen Kuh und Kalb einzustellen. „Ich musste lernen, ihre Körpersprache zu verstehen“, erläutert Knösel. Sie trägt die Verantwortung für die Herde mit den 50 Schweizer Original-Braunviehkühen und achtet dabei sehr darauf, sich und ihrer Philosophie treu zu bleiben und die Kühe und Rinder zwar für die Erzeugung von Nahrungsmitteln zu nutzen, ihnen dabei aber über die gesamte Lebensstrecke mit Respekt und Achtung zu begegnen.

Seit Beginn der muttergebundenen Aufzucht sind in der Milchviehherde rund 600 Kälber auf die Welt gekommen und auf diese Art und Weise aufgewachsen. Den eigenen Mutter-Kind-Bereich gibt es seit fünf Jahren. Damals wurde in das offene Gebäude auch eine Kammaufstallung eingebaut, um den horntragenden Kühen mehr Ausweichmöglichkeiten zu schaffen. „Der Stall sollte noch tiergerechter werden, für Jungtiere und Kühe“, erklärt sie.

Auch Bullenkälber werden auf dem Hof aufgezogen

Sämtliche Jungtiere auf dem 200 Hektar großen biologisch-dynamischen Betrieb werden aufgezogen. „Bei uns verlässt kein männliches Jungtier den Hof“, sagt Knösel. Vielmehr nutzten sie die genetische Eignung der Doppelnutzungsrasse für die spätere Ausmast von Bullen und Färsen. „Für uns sind das wichtige Synergieeffekte, die wir uns in der Herde zueigen machen und wofür wir 2013 zusätzliche Stallkapazitäten geschaffen haben. Die Bullenkälber ins Ausland zu verkaufen, könnte ich mir nicht vorstellen. Das entspricht nicht unserem System eines geschlossenen Kreislaufs“, gibt die Betriebsleiterin Einblicke in die Wirtschaftsweise des alternativ geführten Hofgutes.

Dazu zählt auch der strikte Verzicht auf Kraftfutter für die Kühe, Bullen, Färsen und Kälber. Die fressen auf dem Vollweidebetrieb ausschließlich Gras und Heu. Als Futtergrundlage stehen hierfür 85 Hektar Grünland und 35 Hektar Kleegras zur Verfügung. Weiden können die Kühe auf insgesamt 18 Hektar, arrondiert um den Betrieb. Zudem werden die Kälber nicht enthornt. Das würde den Demeter-Statuten widersprechen genauso wie eine auf hohe Milchleistungen fokussierte Zucht.

Auf dem Hofgut zählen hohe Lebensleistungen mehr als die einmal im Jahr erfasste Laktationsleistung. „Wir wollen langlebige Kühe, die möglichst gesund und fit durch ihr Milchkuhleben gehen“, erläutert Knösel. Der aktuelle Altersdurchschnitt der Herde liegt bei sieben Jahren. Rund 5000 Kilogramm Milch geben die Braunviehkühe im Jahresverlauf. Davon fließen rund 1000 Kilogramm Milch in die Aufzucht der Kälber. Bleiben rund 4000 Kilogramm Vorzugsmilch pro Kuh, die direkt ab Hof und über einen Biogroßhändler vermarktet werden. Nicht gerade viel möchte man meinen, doch das Zusammenspiel aus grundfutterbasierter Fütterung, siebenmonatigem Weidegang und Milch ad libitum für die Kälber rechnet sich laut Knösel. „Wir erzielen mit dieser Strategie betriebswirtschaftlich tragfähige Ergebnisse“, sagt sie und widerspricht damit anderslautenden und leistungsbasierteren Konzepten für eine wirtschaftlich tragfähige Milcherzeugung. Zudem könne mit der muttergebundenen Kälberaufzucht erheblich Arbeitszeit eingespart werden.

Untermauert werden diese Erkenntnisse durch die Erfahrungen in der Aufzucht der Kälber: „Seit wir sie an ihren Müttern und später an den Tanten Milch saugen lassen, haben wir keine kranken Tiere mehr“, sagt Knösel. Das sei früher anders gewesen. Vielfach litten die Jungtiere in den ersten Lebenswochen unter Durchfall und waren anfällig für Atemwegsinfektionen. Dennoch schlage ihr Skepsis entgegen, wenn sie auf Vorträgen für eine Aufzucht plädiert, bei der sich die Kälber satt trinken anstatt restriktiv mit Vollmilch oder Milchaustauscher (MAT) getränkt zu werden. Knösel beruft sich dabei auf Forschungsergebnisse zur metabolischen Programmierung. In mehreren Studien, unter anderem in Kanada, wurde ein positiver Effekt auf Wachstum und Entwicklung der Kälber festgestellt, wenn sie soviel energiereiche Vollmilch trinken konnten wie sie wollten beziehungsweise benötigen. Die intensivere Befriedigung des Saugbedürfnisses reduziere zudem das Besaugen untereinander beziehungsweise an Gegenständen.

Viel Milch und gut entwickelte Euteranlagen

Dieser Effekt mache sich auch langfristig bezahlt. „Man tätigt eine Grundinvestition, bei der man später sehr viel zurück bekommt“, stellt Knösel in ihrer Arbeit mit den Jungtieren fest. So geben die Kühe vergleichsweise viel Milch, ihre Euteranlagen sind gut entwickelt. „Wer zuvor nur den Milchverlust sieht, für den eignet sich dieses System nicht.“ Knösel hat den Schritt in die muttergebundene Aufzucht der Kälber bisher jedenfalls nicht bereut: „Mir macht es auf fachlicher und emotionaler Ebene Freude, die Kälber so aufzuziehen.“ Allerdings hätten sie und die Kühe lernen müssen, wie es funktioniert: Mit Vertrauen und Respekt vor den Tieren.

Vor- & Nachteile der muttergebundenen Kälberaufzucht

In dem Verfahren, das bis jetzt vorzugsweise Bio- und Ökomilchviehbetriebe praktizieren, trinken die Kälber zwölf Wochen lang an der eigenen Mutter. In der Absetzphase von der 13. bis zur 16. Woche werden die Kälber an fremden beziehungsweise verwandten Müttern getränkt. Das bringt Vorteile, ist allerdings an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Dabei überwiegen für Mechthild Knösel die Vorzüge:

  • Hohe Milchaufnahme (zirka 1080 kg pro Kalb).
  • Vierwöchige Immunisierung des Kalbes.
  • Frühe Entwicklung des Sozialverhaltens.
  • Absetzgewicht mit vier Monaten 200 kg (tägliche Zunahme: 1380 g).
  • Weniger Trennungsschmerz durch schrittweise Entwöhnung.
  • Keine Wachstumseinbrüche bei Absetzern (Schlachtgewicht bei den 24 Monate alten Mastbullen: 420 kg).
  • Hohe Arbeitseffizienz: Täglicher Arbeitszeitbedarf für die im Jahresverlauf geborenen 50 Kälber eine Stunde pro Tag.
  • Hohe Tiergesundheit: Krankheitsrate bei Kälbern geht gegen Null.
  • Wirtschaftliche Effizienz steigt: Gesunde Kälber erhöhen die Chance auf langlebige, fitte und leistungsfähige Kühe.
  • Imagegewinn für den gesellschaftlichen Anspruch an mehr Tierwohl.

Aber:

  • Hoher Stallplatz- und Flächenbedarf.
  • Sehr gute Arbeitsorganisation notwendig.
  • Bereitschaft sich mit Geduld und Respekt mit den Tieren zu beschäftigen und sich mit ihren angeborenen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen.
  • Zu Beginn des Melkens halten die Kühe zum Teil die Milch zurück.

 

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