Aus dem Supermarkt in den Stall blicken
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Jürgen Berens von Rautenfeld (JBR)
ist Vorstandschef der Online Software AG – ein Softwarehaus für die multimediale Preis- und Werbekommunikation im Einzelhandel. Im September 2019 hat er Tierwohl.tv gestartet. Dabei ermöglicht ein Bildschirm im Lebensmittelmarkt den Kunden einen Live-Einblick in den Stall. Die Initiative begann mit zwei Landwirten bei Rewe Richrath in Köln. Inzwischen machen circa 40 Betriebe mit – auch Schweinehalterin Gabriele Mörixmann. Tierwohl.tv unterstützt Händler und Landwirte dabei, ihr Engagement für mehr Tierwohl glaubhaft an die Verbraucher zu kommunizieren. Ziel ist die ungefilterte Sicht auf die Haltungsbedingungen der Tiere, deren Produkte die Verbraucher kaufen. Dafür seien diese bereit, mehr Geld auszugeben als für das Fleisch eines Tieres aus anonymer Haltung.
Sie kommen beruflich aus dem Einzelhandel. War das hilfreich, als Sie mit Tierwohl.tv starteten?
JBR: Bei der Online Software AG machen wir seit 30 Jahren alles, was der Kunde sieht – also Preis- und Werbekommunikation im Einzelhandel. Zwischen 80 und 90 Prozent aller Lebensmittelhändler setzen unsere Software ein. Dadurch hatten wir schon eine Marktdurchdringung, aber auch eine Verantwortung, neue und gesellschaftlich wichtige Themen möglichst schnell auf unserer Plattform auszuspielen. Mit Tierwohl.tv wollen wir der Gesellschaft das geben, was sie längst haben will und was die Politik nicht schafft.
Die Kund:innen im Einzelhandel können dank Tierwohl.tv direkt in den Stall blicken, aus dem die Produkte stammen. Was löst das aus?
JBR: Es soll die Gedanken aus dem Hinterkopf nach vorn bringen. Ich glaube daran, dass die meisten Kunden ihr Verbraucherbewusstsein und -verhalten ändern, wenn sie erfahren, was hinter den Produkten steckt. Ich glaube an das Gute im Menschen, den gesunden Menschenverstand und nicht an Vorschriften oder Mehrwertsteuererhöhungen.
Verbraucher kaufen oft weniger tierfreundlich ein, als sie eigentlich wollen. Liegt das daran, dass es zu aufwendig ist, sich zu informieren?
JBR: Zu 100 Prozent. Der Kunde ist ja nicht schizophren und sagt das eine, tut aber das andere. Er hat beim Einkaufen keine Möglichkeit, so zu agieren, wie er sich das wünscht. Transparenz ist da wichtig.
Kunden sehen bei Tierwohl.tv, dass es Tieren aus vorbildlicher Haltung gut geht – egal ob Bio oder konventionell. Wie das Futter erzeugt wird, ist jedoch nicht sichtbar. Es wäre möglich, dass die Kund:innen dann den Preisaufschlag für Bio nicht mehr zahlen wollen.
JBR: Das ist durchaus möglich. Wenn er oder sie den Livestream ohne Zertifizierungslogo sieht, könnte der Verbraucher zur günstigeren Alternative neigen. Denn bei der konventionellen Haltungsform 4 ist man bei etwa 30 Prozent Preisaufschlag im Vergleich zur Preiseinstiegsware. Bio kostet etwa das Dreifache. Das ist ein großer Unterschied und sicher einer der Gründe, warum es noch keinen richtigen Bioschweinemarkt gibt. Wir zeigen aber nicht nur das Bild vom Stall, sondern auch das Biologo und weitere Informationen auf dem Bildschirm.
Warum ist die Live-Übertragung vom Stall in den Supermarkt die Lösung für mehr Tierwohl?
JBR: Aktionismus verpufft, wenn in intransparenten Systemen der Verbraucher nur Zaungast ist. Es ist für Kunden unheimlich schwierig, in einem Verkaufsregal die hochwertigere, tierwohlgerechte Ware zu finden. Trotz der Mühe der Händler, mit verschiedenen Siegeln zu arbeiten, sieht der Kunde den Wald vor lauter Bäumen nicht. Er ist verwirrt. Die Nutztierhaltung ist – abgeriegelt und außerhalb der Ortschaften – am Rande der Gesellschaft angekommen und wird als weniger wertvoll wahrgenommen. Durch Tierwohl.tv kommen die Nutztiere den Menschen wieder ganz nah. Das Livebild erzeugt dabei am meisten Wirkung. Wir empfehlen jedem Bauern zwei Videokanäle aus dem Innen- und Außenbereich. Das sorgt für mehr Abwechslung. Der Landwirt unterschreibt, dass er einen Durchschnitt seiner Tierhaltung abbildet. Der Händler muss sich verpflichten, nur diesen einen Betrieb auf dem Bildschirm zu zeigen. Für Tierwohl.tv sprechen unter anderem neben dem Tierwohl weniger Fleischkonsum, kürzere Transportwege und weniger Antibiotika-Einsatz.
Stört kaum: Die Kamera im Schweinestall
Wie kann ein Livestream den Fleischkonsum reduzieren?
JBR: Mit Tierwohl.tv können die Landwirte ihre Liveaufnahmen dort zeigen, wo die Kaufentscheidung getroffen wird – im Supermarkt. Das Tier kommt dem Verbraucher am Regal wieder näher. Er fragt sich, ob es jeden Tag das große Schnitzel sein muss. Und wenn, dann entscheidet er sich eher für die bessere Qualität. Also auch für den höheren Preis, der vielleicht nicht jeden Tag im Budget ist.
Das hören Schweinehalter bestimmt nicht gern.
JBR: Der Schweinehalter mit Haltungsform 1 und 2 hört das nicht gern, weil er auf Kostenreduktion und Volumen ausgerichtet ist. Aber ich habe ja nur mit Haltungsform 3 und 4 zu tun, bei denen die Landwirte ein ganz anderes Verhältnis zum Tier haben. Und die nutzen Tierwohl.tv gerne, um den vorherrschenden niedrigen Preisen etwas Nachvollziehbares entgegensetzen zu können.
Diese Landwirte akzeptieren einen sinkenden Fleischkonsum, solange das, was konsumiert wird…
JBR: …bei ihnen landet.
Wende ich mich bei Interesse einfach an Tierwohl.tv?
JBR: Ja. Dann bekommen Sie eine Seite mit Information und einer unserer Kollegen vereinbart mit Ihnen einen unverbindlichen Besuch. Bisher haben wir uns jeden Hof selbst angesehen.
Und wie geht es dann weiter?
JBR: Erstens: Kamera installieren und mit dem Internet verbinden. Zweitens: Bildschirm im Markt aufstellen. Drittens: Individuelle Playlist zusammenstellen. Wir gestalten die Playlist für die Landwirte. Eine Playlist besteht meist aus einer Minute Livestream, zehn Sekunden Familienfoto und zehn Sekunden Angebot.
Was kostet denn der Livestream?
JBR: Dem Landwirt empfehlen wir zwei feststehende Kameras. Die sind wartungsfrei, robust und kosten zusammen etwa 5.000 Euro inklusive Installation. Im Monat fallen für das Hochladen auf einen deutschen Server zusätzlich etwa 50 Euro je Kamera an. Wer ortsunabhängig über LTE senden möchte, kann mit Vodafone oder Telekom für 42 bis 60 Euro im Monat einen speziellen Tierwohl.tv-Mobiltarif abschließen. Bei zwei Kameras im Dauerstream entstehen etwa 300 GB Datenvolumen. Das ist mit einem normalen Handytarif nicht machbar.
Welche Betriebe und Tiere eignen sich besonders für Tierwohl.tv?
JBR: Die artgerechte Tierhaltung ist das einzige Kriterium. Es ist noch nicht vorgekommen, dass wir einen interessierten Betrieb nicht nehmen konnten.
Was halten denn die Landwirt:innen davon, wenn andere sie bei der Arbeit beobachten?
JBR: Das Projekt ging lange nicht voran, weil es keine Landwirte gab, die gesagt haben: „Kamera? Cool, ich bin dabei!” Kameras sind bei Landwirten verschrien wegen Stalleinbrüchen von Aktivisten. Da mussten wir anfangs viel Vertrauen aufbauen. Der Landwirt hat natürlich immer im Kopf, dass die Kameras von Montag bis Samstag von morgens um acht bis abends um acht laufen. Nur sonntags ist Ruhe. Und wenn die Sonne untergeht, sind auch die Kameras aus. Wenn Mitarbeiter im Stall nicht gefilmt werden möchten, können sie die Kamera kurz ausschalten. Auf dem Bildschirm mit dem Livestream erscheint dann eine Notiz „Wir sind gleich wieder für Sie da!“ In der Tierwohl.tv-App kann der Landwirt jederzeit auf seine Kameras gucken.
Stört kaum: Die Kamera im Schweinestall
Das klingt gewöhnungsbedürftig. Warum machen die Betriebe mit?
JBR: Der Mehraufwand rechnet sich. Man sieht, dass sich die teilnehmenden Betriebe weiter verbessern: Es kommen Spielzeuge für die Tiere dazu und es werden mehr Bäume im Außenbereich gepflanzt. Die Schweinehalterin Gabriele Mörixmann macht zum Beispiel 50 Prozent mehr Umsatz mit Ihrem Schweinefleisch bei einem Kunden, seitdem beide bei Tierwohl-TV dabei sind.











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