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Interview

„Ohne Komfort geht es bei Kälbern nicht“

Dr. Caroline van Ackeren und Joschko Luib beschäftigen sich am Landwirtschaftlichen Zentrum Baden-Württemberg (LAZBW) in Aulendorf intensiv mit Fragen der Kälberaufzucht. Die Referenten im Fachbereich ­Rinderhaltung plädieren für eine tiergerechte Haltung und Fütterung der Jungtiere. Nur dann entwickelten sich die Kälber zu gesunden und leistungsfähigen Rindern.

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LAZBW
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BWagrar: Frau Dr. van Ackeren, wie starten neugeborene Kälber gut ins Leben?

van Ackeren: Die rechtzeitige und ausreichende Versorgung des neugeborenen Kalbes mit hochwertiger Biestmilch ist eine solide Basis für eine erfolgreiche Aufzucht. Einfach gesagt – die erste Mahlzeit und damit der erste Lebenstag ist so wertvoll wie die daran anschließende Tränkephase.

Kolostrum, Transitmilch, und ab dem fünften Lebenstag Vollmilch liefern den neugeborenen Kälbern leicht verdauliche Nährstoffe. Ob man die Kälber im Anschluss daran weiter mit Vollmilch oder Milchaustauscher tränkt, ist dabei nicht vorrangig entscheidend. Vielmehr kommt es darauf an, die Kälber mit genügend Nährstoffen aus der jeweiligen Tränke zu versorgen. Neben der täglichen Nährstoffversorgung sollte auf die Tränkedauer geachtet werden, praxisüblich ist eine Tränkephase von zehn bis zwölf Wochen. Insgesamt betrachtet kann sich dies auf die gesamte Entwicklung des Rindes nachhaltig auswirken.

Hinzu kommt, dass die Aufzucht der Jungtiere am Anfang mehr Zeit benötigt. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass Zeit oft ein knapper Faktor ist und so auch im Bereich der Jungtieraufzucht. Zwar ist sich jeder um die Empfindlichkeit dieser jungen Tiere bewusst, die Umsetzung scheitert aber häufig an der zu knapp bemessenen Zeit für den Kuhnachwuchs.  Doch diese intensive Betreuung in den ersten Lebenstagen ist mehr als wertvoll und kann zu einer deutlichen Zeitersparnis bei den älteren Tieren führen und damit auch einen maßgeblichen Beitrag zu den Aufzuchtkosten leisten, denn von Anfang an gesunde Tiere sind deutlich leistungsfähiger.

BWagrar: Herr Luib, worauf kommt es bei den Ställen für die einzelnen Lebensabschnitte an?

Luib: Zugluft und Auskühlung stellen für junge Kälber eine ernste Bedrohung dar und der Stall dient dazu die Tiere davor zu schützen. Gegen Auskühlung sollte den Tieren in der Tränkephase ein geschützter Kleinklimabereich angeboten werden. Solange die Tiere noch nicht vollständig auf die Aufnahme und Verwertung von Grobfutter umgestellt sind, können sie ihre Körpertemperatur nur schlecht aufrecht halten, da sie noch nicht genügend Energie aus dem Grobfutter umsetzen können.

In den ersten Lebenswochen kann ein Iglu diese Aufgabe sehr gut übernehmen, später in der Gruppenhaltung eigenen sich entweder Gruppeniglus oder Kälbernester. Iglus dürfen dabei aber nicht mit einem vollständigen Witterungsschutz verwechselt werden. Eine Überdachung der Iglus verhindert im Winter die Durchnässung der Einstreu und im Sommer die Aufheizung der Iglus und schafft zudem einen angenehmeren Arbeitsplatz für den Menschen.

Damit der Mikroklimabereich seiner Aufgabe gerecht wird, muss er auch vor Zugluft geschützt werden. Dabei muss beachtet werden, dass die Vermeidung von Zugluft keinesfalls „Windstille“ bedeutet, ein langsamer Luftaustausch (circa 0,2 Meter pro Sekunde) ist notwendig, um Frischluft in den Stall und Schadgase aus dem Stall zu transportieren. Windschutznetze sind hier gut geeignet.

Nach dem Abtränken nimmt die Gefahr, die für die Tiere von Zugluft ausgeht, zwar deutlich ab, dennoch sollten auch ältere Tiere durch die Aufstallung vor direkter Zugluft weiterhin geschützt werden. Daneben sollte der Liegebereich besonders im Sommer vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt sein. Das schließt zum Beispiel auch Lichtplatten im Liegebereich aus. Mit solchen Maßnahmen kann maßgeblich zum Schutz vor Hitzestress, der selbstverständlich nicht nur Milchkühe belastet, und zu einer positiven Entwicklung der Jungtiere beigetragen werden. In Neubauten kann Hitzestress durch isolierende Dacheindeckungen wirkungsvoll verringert werden.

Eine weitere wirkungsvolle Methode zu Steigerung des Tierwohls ist die Trennung der Funktionsbereiche (Liegen, Fressen, Bewegung). Dadurch kann deutlich mehr Ruhe für die Tiere erreicht werden. In Zweiraumställen kann ein planbefestigter oder mit Spaltenboden ausgelegter Fressbereich von den Tieren nicht nur zum Fressen, sondern auch für Bewegung und Spiel genutzt werden. Dadurch kann der eingestreute Liegebereich auch die Funktion eines echten Ruhe- und Rückzugsbereichs übernehmen.

Das Tierwohl kann auch durch die Anreicherung der Haltungsumgebung durch Kälberbürsten und Beschäftigungsmaterial gesteigert werden. Durch solche Angebote kann das Erkundungs- und Spielverhalten der Tiere befriedigt werden. Beim solitären oder gemeinsamen Spielen wird einerseits die Vermeidung von Verhaltensauffälligkeiten, wie gegenseitiges Besaugen und andererseits die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten unterstützt.

Als Beschäftigungsmaterial eigenen sich zum einen organische Materialen wie Heu, Stroh oder Zweige, zum anderen aber auch anorganische Materialen wie Ketten, Bälle oder Bürsten. Auch Mischformen wie beispielsweise Heubälle sind ein geeignetes Beschäftigungsmaterial und können die Tiere zur spielerischen Aufnahme von Grobfutter animieren.

Für alle Fragen zu Beschäftigungsmaterial für Kälber steht auf der Homepage der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) eine ausführliche und kostenlose Broschüre zur Verfügung (https://www.ble-medienservice.de/0356/beschaeftigungsmaterial-fuer-kaelber-ein-ueberblick-ueber-unterschiedliche-beschaeftigungsmoeglichkeiten-im-praxiseinsatz)

Über alle Lebensabschnitte hinweg ist es entscheidend, dass die Funktionsmaße und das Platzangebot des Haltungssystems mit der Körpergröße der sich entwickelnden Rinder mitwächst. Das LAZBW publiziert zu dieser Frage eine laufend aktualisierte Planungshilfe, die auf der Homepage (www.lazbw.de) abgerufen werden kann.

BWagrar: Worauf kommt es bei der Fütterung in den einzelnen Lebensabschnitten an?

van Ackeren: Tränken, füttern, beobachten und betreuen: die ersten drei Monate im Leben eines Kalbes sind wertzuschätzen, dies spiegelt sich allerdings folgerichtig auch in Kosten wider. Die durch verschiedene Fachstudien bestätigten „runden“ fünf Euro pro Jungtier und Tag gelten nach wie vor und sind eine lohnende Investition für gesunde und leistungsbereite Tiere.

Die zeitige Aufnahme von qualitativ hochwertigem Grund- und Kraftfutter wirkt sich vorteilhaft auf die körperliche Entwicklung aus und nicht zuletzt sinken auch die Aufzuchtkosten. Beim Absetzen der Milchtränke (Vollmilch beziehungsweise MAT) ist daher unbedingt auf die Festfutteraufnahme zu achten, ein bis zwei kg täglich sollten erreicht sein. Totale Mischrationen aus trockenen Komponenten mit ausreichend Strukturfutteranteil (mindestens 15 Prozent Stroh beziehungsweise 30 Prozent Heu) verbessern dabei die Verfahrenssicherheit und mindern das Acidoserisiko.

Nur so kann sich bei den Kälbern ein funktionsfähiges Vormagensystem frühzeitig ausbilden, durch das sie in der Lage sind, ausreichend Grundfutter aufzunehmen, um so erfolgreich von der Milchtränke abgesetzt zu werden.

Abhängig von der Jahreszeit ist bei Aufstallung der Tiere im Außenbereich die Nährstoffzufuhr (inklusive der Wasserversorgung) an die jeweiligen Temperaturbedingungen anzupassen, d.h. im Sommer deutlich höherer Wasserbedarf und im Winter bei entsprechenden Minusgraden deutlich höherer Nährstoffbedarf, um den gewünschten Aufzuchterfolg sicherzustellen.

BWagrar: Die Kälberhaltung ist immer mehr in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte gerückt. Auf welche Entwicklungen müssen sich die Landwirte einstellen?

Luib: Mit der Bürgerinitiative „End the Cage Age“ wurde unter anderem die Einzelhaltung von Kälbern auf EU-Ebene grundsätzlich in Frage gestellt und die EU-Kommission führt bis Ende 2022 eine Folgeabschätzung zu den Forderungen der Bürgerinitiative durch. Auch wenn derzeit noch keine Ergebnisse dieser Folgeabschätzung geschweige denn konkrete Regelungen oder ein zeitlicher Fahrplan zur Änderung der Einzelhaltung von Kälbern bekannt sind, ist doch davon auszugehen, dass sich die Vorgaben zur Einzelhaltung von Kälbern im Sinne des Tierwohls ändern werden.

Wie solche Änderungen aussehen können, zeigt ein Blick auf Kälber in der ganzjährigen Mutterkuhhaltung. Dieses Haltungssystem kommt der Natur am nächsten und erlaubt Beobachtungen zum artspezifischen Verhalten der Tiere. Auch hier separieren sich neue geborene Kälber für circa drei bis fünf Tage von der Herde und suchen Deckung auf. Nach dieser Zeit kommen die Kälber einer Herde in einer losen Gruppe zusammen.

In der Stallhaltung ist hier die Paarhaltung von Kälbern ein interessanter Ansatz. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Paarhaltung von Kälbern ab dem fünften Lebenstag zu einer positiven und zügigen Entwicklung der Kälber beitragen kann. Kälber aus einer Paarhaltung können sich besser und schneller auf veränderte Haltungsbedingungen (Umstallen, Absetzen) einstellen als Kälber, die bis zur achten Woche in Einzelhaltung gehalten wurden. Höhere Erkrankungsinzidenzen der Kälber aus der Paarhaltung konnte dabei nicht festgestellt werden.

Auch die kuhgebundene Aufzucht greift unter anderem die Problematik der Einzelhaltung auf und könnte in der Zukunft neben Fragen zu Eingriffen am Kalb (Enthornen) eine wachsende Bedeutung in der Kälberhaltung gewinnen.

Abseits dieser eher wagen Aussichten zu Veränderungen der Einzelhaltung gibt es aber auch sehr konkrete Veränderungen in der Kälberhaltung. Mit Beschluss vom 30. November 2021 hat der Bundesrat eine Änderung der Tiertransportverordnung beschlossen. Ab 1.Januar 2023 dürfen Kälber abweichend von der momentan noch gültigen Regelung erst ab dem 28. Lebenstag innerstaatlich transportiert werden. Dadurch sollen die Kälber auf einen besseren eigenen Immunschutz während des Transports und die Eingewöhnung in einen neuen Stall zurückgreifen können.

Je nach bisheriger Betriebsweise sind die Betriebe sehr unterschiedlich von dieser Änderung betroffen. Dies gilt insbesondere für Betriebe, die bisher die nicht selbst benötigten Kälber mit 14 Tagen verkauft haben. Gerade hier nehmen die Kosten für die Aufzucht deutlich zu und müssen am Markt wieder erzielt werden können. Eine Möglichkeit kann hier in der unterschiedlichen Besamung von Zuchttieren und Tieren mit deren Genetik nicht weitergearbeitet werden soll, liegen. Während Zuchttiere gezielt mit gesextem Sperma besamt werden können, besteht für die übrigen Tiere die Möglichkeit diese mit Fleischrassen zu belegen und dadurcheventuell. bessere Preise für die Verkaufskälber zu erzielen.

Gerade die Frage der nicht zur Bestandsergänzung benötigten Kälber steht ebenfalls vermehrt im gesellschaftlichen Fokus und wird teilweise sehr emotional geführt. Hier geht es einerseits um die Frage, ob die Aussage „Ein Kalb je Kuh und Jahr“ unter heutigen Produktionsbedingungen und Erkenntnissen so noch Bestand haben kann. Hier zeigt sich, dass eine Verlängerung der freiwilligen Wartezeit nach der Kalbung und der damit verlängerten Zwischenkalbezeit nicht einfach nur zu weniger geborenen Kälbern im Betrieb führt, sondern gerade auch bei hochleistenden Kühen wirtschaftliche Vorteile haben kann.

Die derzeitigen Erkenntnisse zeigen aber auch, dass die Zwischenkalbezeit nicht pauschal erhöht werden sollte, sondern im besten Fall tierindividuell und dass die Fütterung für altmelkende Tiere angepasst werden muss, um eine Überkonditionierung zu vermeiden. Neue Erkenntnisse können beispielsweise auch aus dem Projekt „VerLak- Verlängerung der Laktationsperiode und selektives Trockenstellen“, welches im Rahmen der Modell- und Demonstrationsvorhaben Tierschutz (MuD) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft im letzten Herbst gestartet ist, erwartet werden.

Ein zweiter Punkt, weswegen die nicht zur Bestandsergänzung benötigten Kälber im Fokus stehen, sind die Tiertransporte, insbesondere über längere Strecken. Auch die Landesregierung hat es sich in ihrem Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht ein Konzept zur Vermeidung von Kälbertransporten über lange Strecken zu erarbeiten. Aus Landwirtschaftlicher Sicht zielt das wirksamste Konzept dabei auf die Schaffung von regionalen Absatzmöglichkeiten beziehungsweise Wertschöpfungsketten ab.

Solche Ketten schließen dabei nicht nur den Erzeuger, den Viehhändler und den Mäster ein, sondern müssen auf die spätere Schlachtung, Weiterverarbeitung und den Verkauf (Einzelhandel, Fachgeschäfte, Gastronomie) ausgedehnt werden. Einen besonderen Beitrag kann sicherlich das Projekt „EIP–Milchviehkälber – Wertschätzung durch Wertschöpfung“, das ebenfalls im letzten Herbst gestartet ist und den Aufbau solcher regionaler Wertschöpfungsketten zum Ziel hat, liefern.

Einmal mehr zeigt sich, dass aus dem gesamtgesellschaftlichen Wunsch nach veränderten Haltungs- und Produktionsbedingungen und mehr Tierwohl auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung zur Umsetzung und Finanzierung dieses Wunsches erwächst. Diese Verantwortung betrifft zum einen die politischen bzw. gesetzlichen Rahmenbedingungen in allen Teilen der Wertschöpfungskette, zum anderen ist aber auch der Wille und Mut aller Beteiligten – vom Erzeuger bis zum Endverbraucher – zur Übernahme der eigenen persönlichen beziehungsweise finanziellen Verantwortung in dieser Wertschöpfungskette notwendig.

Tatsächlich ist es aber auch richtig, dass hier noch ein gesamtgesellschaftliches Umdenken stattfinden muss, denn der Preis nimmt immer noch den meisten Einfluss auf Kaufentscheidungen. So besteht eine der größten zukünftigen Herausforderungen für die Landwirtschaft und für die einzelnen Landwirtinnen und Landwirte darin  diesen Prozess zu begleiten und als kompetenter, glaubwürdiger und zentraler Teilnehmer dieser Wertschöpfungskette wahrgenommen zu werden.

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