„Tierwohl gibt es nicht zum Nulltarif“
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Die Anforderungen an die Haltung von Nutztieren steigen. Unaufhörlich und in immer schnellerem Tempo. Das zeigt das jüngste Urteil des Bundesverwaltungs-gerichtes zu Kastenständen für Zuchtsauen: Zu eng und zu beschränkend, bescheinigten die Richter dem Verfahren in der Deck- und Wartehaltung. Ein Beispiel, das für viele gesellschaftliche Forderungen an die moderne Tierhaltung steht. Und das für Prof. Dr. Gerald Reiner vom Klinikum für Veterinärmedizin an der Uni Giessen die Diskrepanz in der Debatte um mehr Tierschutz für Schweine, Rinder und Geflügel zeigt. Zwar forderten immer mehr Verbraucher, dass die Tiere auf den Höfen komfortabel gehalten werden, in Ställen und beim Management die Tiergerechtheit ganz oben auf der Agenda steht und auf sogenannte kurative Eingriffe an den Tieren, wie das Kupieren der Schwänze bei Ferkeln, verzichtet wird.
„Gleichzeitig fehlt jedoch die Bereitschaft, für das Mehr an Tierwohl auch mehr zu bezahlen“, kritisiert der Tierarzt am Mittwoch dieser Woche auf der Fachtagung im hohenlohischen Wolpertshausen. Nach wie vor entscheide der Preis über den Fleischeinkauf. Gerade mal fünf Prozent, der Kunden, stellte Reiner klar, akzeptierten die Mehrkosten für das nach höheren Tierwohlstandards erzeugte Fleisch.
Landwirte stelle diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit vor immer größere Probleme. Denn keiner weiß, wie der Richtungsstreit ausgehen wird, ob tatsächlich der Qualitätsgedanke obsiegt und sich deutlich mehr Verbraucher als bisher an der Ladentheke anders entscheiden. Für den Giessener Wissenschaftler müsste das Investment der Landwirte deshalb schon jetzt deutlich mehr honoriert werden. Das hätte zur Folge, dass mehr Tierhalter die Angst davor verlieren, am Ende auf den Kosten sitzen zu bleiben.
In solch einem Dilemma stecken Schweinehalter, die ihren Ferkeln die Schwänze nicht mehr kupieren. Sie laufen Gefahr, dass sich die Tiere später in die Schwänze beißen - mit allen Folgen, die das für die Tiere und deren Vermarktbarkeit hat. "Bis zu 60 Prozent der Langschwanz-Mastschweine beißen sich in den Schwanz", untermauert der Wissenschaftler die Befürchtungen vieler Landwirte. Ein nicht zu unterschätzendes Problem, und eines, das nach Lösungen sucht. Denn die EU ahndet das routinemäßige Kupieren der Schwänze seit 2008 in einer Regulierung und erachtet es nur in Ausnahmefällen für zulässig. Zudem schreiben immer mehr Qualitätsprogramme den Verzicht auf kupierte Schwänze in ihren Kriterienkatalog.
Umso mehr gefragt ist Ursachenforschung. Doch um auszutesten, warum sich schon vier Wochen alte Ferkel gegenseitig in den Schwanz beißen, ist Geld nötig.
Den Testlauf durch den Stall gibt es nicht für lau. Dafür umso mehr Fragen, die geklärt werden müssen, sollen Ferkeln die Schwänze nicht mehr kupiert werden: Ist es womöglich zu warm im Stall? Sind es zu viele Tiere pro Bucht? Wie steht es um die Durchfluss der Tränkebecken? Können die Tiere genügend saufen? Können sie sich beschäftigen, spielen? Bekommen sie genügend Rohfaser vorgelegt? Sind sie durch das Umgruppieren gestresst und krank? Welchen Einfluss hat die Genetik? Die Liste an Fragen lässt sich verlängern. Die Ursachen der Verhaltensstörung offenbaren sich als „riesige Blackbox“, machte Reiner deutlich. Alles hängt mit allem zusammen und lässt sich nicht mit einer Maßnahme verhindern. Allein fehlendes Beschäftigungsmaterial taugt nicht als Erklärungsversuch für die Verhaltensstörung, macht Reiner deutlich. Umso teurer werden der Haltungs-, Futter- und Managementcheck.
Ähnliche Erfahrungen macht Martin Stodal. Der Ferkelerzeuger aus Creglingen-Freudenbach ist einer von acht Testbetrieben im Modell- und Demonstrationsvor-haben (MUD) Tierschutz des Bundesagrarministeriums. Seit 2015 testet er, wie Ferkel und Mastschweine mit langen Schwänzen aufgezogen und gemästet werden können. Für die Zeit des Versuchs erhält er dafür Fördergelder. Ansonsten wäre es schwierig, meint der Agrartechniker. „Um wirtschaften zu können, bräuchte ich für ein so gehaltenes Mastschwein rund 50 Euro mehr, beim Ferkel wären es gut 20 Euro“, macht Stodal vor den Landwirten in Wolpertshausen deutlich.
Warum das so ist? Der junge Landwirt und seine Eltern haben für den Testlauf in die Ställe investiert, Gummimatten, Abdeckungen, Kotbretter, Beckentränken, Trockenautomaten, Raufutterkörbe und Beschäftigungsmaterial in den Buchten für Ferkel und Mastschweine installiert. Das Futter für die Tiere lassen sie untersuchen, die Silos werden professionell gereinigt, der eingesetzte Mykotoxinbinder soll Jungtiere und Mastschweine vor den Folgen der potenziell vorhandenen Gifte schützen. Das Tier-/Fressplatzverhältnis liegt in der Mast bei 1: 4.
Seit dem vergangenen Jahr experimentiert der fränkische Betrieb zudem mit einer neuen Genetik (dänische Muttersauen, norwegische Duroc-Eber), um den Ursachen für das Schwanzbeißen auf die Schliche zu kommen. Sollten die Ergebnisse positiv ausfallen, und dafür gibt es laut Martin Stodal erste Anzeichen, stehe schon das nächste Problem ins Haus. „Für das Fleisch der Durocs haben wir in Baden-Württemberg derzeit keine Vermarktungsmöglichkeiten“, sagt er. Der Grund: Die mit 56 bis 58 Prozent niedrigeren Magerfleischanteile der Rasse.
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