Wie Technik die Lahmheitserkennung erleichtern kann
Lahmheit bei Milchkühen ist eine bedeutende Produktionskrankheit. Die frühe Erkennung von lahmen Tieren vermeidet unnötige Schmerzen bei den betroffenen Tieren. Wie automatische Systeme helfen können, lahme Kühe zu erkennen, das weiß Dr. Isabella Lorenzini. Sie ist Tierärztin sowie Projektmanagerin bei DigiMilch an der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Grub bei München und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der automatischen Erkennung von Lahmheit mithilfe von Verhaltens- und Leistungsparametern.
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BWagrar: Frau Dr. Lorenzini, wie stellt sich die Situation rund um die Lahmheit bei Kühen derzeit in Deutschland dar?
Lorenzini: Die letzte groß angelegte Studie mit belastbaren Daten ist die von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Freien Universität Berlin und Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführte PraeRi-Studie. Dort wurde auch das Vorkommen von Lahmheiten auf Betrieben in Nord-, Ost- und Süddeutschland erfasst. Deren Anteil lag zwischen 25 und 38 Prozent (%) je nach Region in Deutschland. Das deckt sich mit den Angaben aus anderen europäischen und deutschen Studien der letzten Jahre, die besagen, dass circa 25 bis 45 % der Kühe lahm sind. Lahmheit ist also definitiv noch ein Problem.
BWagrar: Was sind die Gründe für die hohe Lahmheitsprävalenz?
Lorenzini: Das Problem liegt vor allem darin, dass die Lahmheit sehr schwer zu erkennen ist. Kühe sind Beutetiere und verstecken ihre Schmerzen solange es geht, um nicht durch Schwäche aufzufallen. Das macht es nicht einfacher und wenn sie tatsächlich sichtbar lahm gehen, dann kann man davon ausgehen, dass das Problem schon länger besteht. Außerdem erhöht die steigende Tierzahl pro Betrieb die Arbeitslast für die Landwirte. Sie nennen mangelnde Zeit für die Einzeltierbeobachtung als einen der Hauptgründe für die hohe Lahmheitsprävalenz auf den eigenen Betrieben.
Hinzu kommt, dass wenn man ein größeres Lahmheitsproblem in der Herde hat, es mit einer Behandlung ja nicht getan ist. Es muss auch nach den Ursachen gesucht und gegebenenfalls auch einiges im Management umgestellt werden. Überbelegung, Laufgangbeschaffenheit und -hygiene oder Liegeboxenhygiene sind oft ein Problem, sowie auch die falsche Anwendung von Klauenbädern. Diese Situation ist für viele Landwirte sehr frustrierend. Sie versuchen alles richtig zu machen und wissen häufig nicht, wo sie ansetzen können, um die Lahmheitssituation zu verbessern.
BWagrar: Hat die Lahmheit auch wirtschaftliche Folgen für den Betrieb?
Lorenzini: Ja, natürlich, nicht ohne Grund gibt es den Spruch: Die Klauen tragen die Milch. Viele Studien beschäftigten sich schon mit den Kosten einer Lahmheit, es gibt direkte und indirekte Kosten, die Berechnung ist sehr komplex. Wir wissen auf jeden Fall, dass die Milchleistung bei lahmen Kühen abnimmt, nicht nur bei akuter Lahmheit, sondern auch als schleichender Prozess über Monate. Bei chronischer Lahmheit schon ab der ersten Laktation wissen wir, dass diese Tiere niemals ihr volles Milchleistungspotential ausschöpfen können. Lahmheit ist tatsächlich auch ein bedeutender Grund für vorzeitige Kuhabgänge, er belegt in Bayern aktuell den dritten Platz, wobei wir davon ausgehen, dass die Zahl auch noch höher sein könnte, da oft auch „sonstige Gründe“ für Abgänge angekreuzt wird.
BWagrar: Kann die Technik helfen, lahme Kühe früher zu erkennen?
Lorenzini: Ja.Wir haben herausgefunden, dass sich vor allem das Liege- und Fressverhalten der Tiere bei einer Lahmheit signifikant verändern. Diese Verhaltensänderungen können mit einem Sensor an einem Halsband, Pedometer oder zum Teil einen Pansenbolus erfasst werden. Ein Pedometer ist ein Lage- bzw. Beschleunigungssensor, der in regelmäßigen Zeitabständen die Lage der entsprechenden Gliedmaße registriert und somit das Verhalten Liegen, Stehen oder Aktivität erfasst. Ähnlich wie jedes Handy oder jede Fitnessuhr es mittlerweile hat.
Allein an der Aktivität kann die Lahmheit allerdings nicht erkannt werden, da dieser Parameter recht unspezifisch ist und sich auch während der Brunst oder bei Hitze verändern kann. Deshalb kombinieren wir verschiedene Parameter und gegebenenfalls sogar Sensoren miteinander. Dazu zählt Aktivität, aber auch Futteraufnahmeverhalten, Liegeverhalten und die Laktationsdaten. Das Fressverhalten kann bei einem Pedometertyp beispielsweise über eine am Futtertisch angebrachte Induktionsschleife erfasst werden.
Die Einzeltiere werden beim Betreten des induzierten magnetischen Feldes registriert. Bei anderen Sensortypen wird die Futteraufnahme über die für dieses Verhalten typischen Bewegungsmuster erfasst. Aus der Kombination der Parameter kann eine Prognose erstellt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Kuh an einem gegebenen Tag lahm ist. Dann kann der Landwirt schauen, ob dies zutrifft und die notwendigen Maßnahmen ergreifen.
BWagrar: Können dies alle bestehenden Sensorsysteme am Markt?
Lorenzini: Die meisten Systeme haben keine spezifischen Gesundheitsalarme, sondern eher unspezifische Hinweise. Das Klauengesundheitsmodul hat bisher, soweit ich weiß, nur die Firma ENGS Dairy Solutions aus Israel und das englische System CowAlert, das hier aber nicht sehr verbreitet ist. ENGS hat ein vollständiges Programm zur Planung der Klauenpflege mit Mobilitätsindex und Lahmheitsüberwachung. Zusätzlich gibt es noch einen Index für Gesundheit und Wohlbefinden, der sich aus den Parametern Liegen, Wiederkäuen und Futteraufnahme berechnet.
Die ENGS-„Track a Cow“-Sensoren sind durch die Induktionsschleife tatsächlich einzigartig auf dem Markt. Mit der Induktionsschleife und RFID-Technologie kann die Anwesenheit der Tiere am Futtertisch oder sonst wo im Stall sehr genau erfasst werden, was für die Forschung und natürlich auch Praxis interessant ist.
Das Metallkabel im Boden erzeugt ein magnetisches Feld und wenn das Tier mit dem Pedometer in das magnetische Feld eintritt, wird es vom System erkannt. Das ist einfach, relativ kostengünstig und sehr nützlich. Wir wollen Forschung betreiben mit Systemen, die wissenschaftlich untersucht wurden, auf dem Markt erhältlich sind und sich für den Einsatz in der Praxis eignen. Die ENGS-Technik hat eine hohe Genauigkeit sowohl bei der Erkennung des Liegeverhaltens als auch bei der Futteraufnahme. Das haben wir im Rahmen mehrerer Studien validiert.
BWagrar: Wo sollten diese Systeme am Tier getragen werden?
Lorenzini: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Immer ist ein Lagesensor enthalten, wenn die Aktivität oder das Liegeverhalten gemessen wird, und der kann als Halsband getragen werden, als Ohrmarke oder auch als Pedometer unten am Bein. Die Wahl des Systems ist eine persönliche Präferenz, wobei ein Halsband praktisch im Umgang und beim Wechsel zwischen verschiedenen Tieren ist. Pedometer werden zum Beispiel bei uns in der Forschung auch für die Bullenmast eingesetzt, weil Halsbänder bei Bullen aus Sicherheitsgründen ausscheiden. Zu groß ist die Gefahr, dass sie damit hängen bleiben, außerdem ist der Nacken so massiv und wächst sehr schnell, so dass man ein Halsband oft nachjustieren müsste.
BWagrar: Nutzen bereits viele Betriebe diese Technik?
Lorenzini: Ja. Bisher nutzen sie vor allem die Brunsterkennung. Diese orientiert sich ja vor allem an den Aktivitätspeaks, das ist auch sehr zuverlässig. Eine nicht repräsentative Online-Umfrage mit dem LKV Bayern, die wir erst kürzlich durchgeführt haben, ergab, dass über die Hälfte der Betriebe Tiersensoren im Stall haben. Das liegt aber sicher auch daran, dass die Melkroboter in Bayern sehr verbreitet sind, und meistens kaufen die Betriebe mit dem Melkroboter auch gleich die Sensortechnik dazu.
BWagrar: Lohnt sich ein Gesundheitserkennungssystem auch finanziell?
Lorenzini: Ja, das haben Studien bereits ermittelt. Ob sich so ein System lohnt, ist aber auch abhängig davon, wie gut ich in dieser Tätigkeit bin. Zum Beispiel die Brunst: Wenn ich sehr gerne Kühe beobachte um zu sehen, ob sie brünstig sind und auch gut darin bin, diese zu erkennen, dann hilft mir ein Brunsterkennungssystem wahrscheinlich nicht so viel. Wenn die Betriebsstruktur wenig Zeit für die Tierbeobachtung zulässt, dann hilft mir solch ein System maximal.
BWagrar: Abgesehen von der Gesundheitserkennung, was können die Systeme noch?
Lorenzini: Einige Systeme bieten auch noch eine Ortung der Tiere im Stall an. Beim ENGS-System kann ich zum Beispiel via Handy eine bestimmte Kuh anklicken und dann leuchtet eine sehr helle LED-Lampe am Halsband auf. Das macht für Melkroboterbetriebe Sinn, weil ich die Kühe doch öfter mal zum Melken nachtreiben muss. Da hilft die Ortung sehr, bestimmte Kühe schnell zu finden. Größere Betriebe oder auch Weidehalter profitieren von der Kuhortung, denn es geht ja immer um Zeitersparnis und Optimierung der Arbeitsabläufe.
Landwirte sind hochqualifiziert in dem, was sie machen, und sie sollten die Zeit, die sie am Tag haben, in Arbeiten investieren können, die ihr Fachwissen erfordern und ihre Zeit nicht mit Kühen suchen vertun. Der Fachkräftemangel betrifft leider auch Landwirtschaft und Tiermedizin, Zeit und Geld sind knapp. Da ist es praktisch, wenn die Kuh schon bereitsteht, wenn der Tierarzt kommt, und nicht noch zeitaufwändig gesucht werden muss.
BWagrar: Worauf ist bei der Auswahl der Sensortechnik zu achten?
Lorenzini: Bei der Neuanschaffung sollte darauf geachtet werden, dass sich die Sensortechnik in die bereits bestehende Stalltechnik integrieren lässt. Es werden sich sicherlich verstärkt die Systeme durchsetzen, die miteinander vernetzt sind, denn es macht wirklich Sinn, wenn der Landwirt nur noch ein App für alles hat. Die Hersteller stehen aktuell zwischen der Entscheidung, ob sie mehr in Richtung Spezifität der Messung gehen oder mehr in Richtung Sensitivität. Also ob ich viele Alarme haben möchte mit der Gefahr, auch viele falsch-positive Tiere zu haben. In Bezug auf die Lahmheit würde das bedeuten, dass ich auch gesunde Tiere in den Klauenstand treibe und damit viel unnötigen Aufwand habe. Oder dass weniger Tiere in den Alarm kommen, diese wenigen aber dann auch tatsächlich lahm sind.
Letztlich ist die Datenerhebung am Tier zukunftsweisend, aber wir müssen auch etwas damit anfangen und überhaupt erst einmal die Zeit finden, uns die Daten anzusehen und unsere Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Denn am Ende soll uns die Technik unterstützen, nicht aber ersetzen.
Weiterführende Infos:
• PraeRi-Studie Abschlussbericht: https://ibei.tiho-hannover.de/praeri/pages/69
• Dissertation von Frau Dr. Grimm zum Thema automatische Lahmheitserkennung mit entsprechender Publikation im Journal of Dairy Science
https://edoc.ub.uni-muenchen.de/19715/1/Schindhelm_Katharina.pdf
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30638999/Anbei
• Dissertation von Dr. Isabella Lorenzini zum Thema automatische Lahmheitserkennung https://edoc.ub.uni-muenchen.de/24941/
• Gemischte Veröffentlichungen mit ENGS-Pedometern:
https://www.aidic.it/cet/17/58/032.pdf
https://www.ktbl.de/fileadmin/user_upload/Allgemeines/Download/DVG-Tagung/S518_Etho-2019.pdfhttps://www.lfl.bayern.de/mam/cms07/ilt/dateien/ilt3b_lahmheit_akal_entwicklung_vorhersagemodell.pdfhttps://ceur-ws.org/Vol-3293/paper2.pdf
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