Bluten die ländlichen Räume im Südwesten aus?
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Prof. Dr. Reiner Doluschitz im Interview mit BWagrar
Bluten die ländlichen Räume in Baden-Württemberg aus?
Prof. Dr. Reiner Doluschitz, Direktor des Food Security Center, leitet an der Universität Hohenheim das Fachgebiet Agrarinformatik und Unternehmensführung und die Forschungsstelle für Genossenschaftswesen. Im Gespräch mit BWagrar erklärt der Betriebswirtschaftler, wie wichtig ländliche Räume als Lebensraum und Wirtschaftsstandort sind und wie möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land hergestellt werden können.
BWagrar: Herr Professor Doluschitz, läuft die Attraktivität zwischen Stadt und Land in Baden-Württemberg auseinander?
Doluschitz: Für attraktiv halte ich sowohl ländliche Räume wie auch Städte im Südwesten gleichermaßen, dabei jeden Lebensraum aufgrund seiner spezifischen Merkmale. Nimmt man allerdings die Lebensqualität der dort jeweils lebenden Menschen als Maßstab, so stellt man deutliche und zunehmende Unterschiede fest.
Hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Überalterung gehören zu den alarmieren-den Merkmalen, die in zunehmendem Maße ländliche Räume prägen. Hinzu kommt, dass ländliche Räume rückläufige Anzahlen an potenziellen Konsumenten und Arbeitnehmern, insbesondere Fachkräften, verzeichnen. Verbunden hiermit ist häufig ein Erodieren wichtiger Einrichtungen der Daseinsvorsorge und Gesundheitsinfrastruktur, des Öffentlichen Personennahverkehrs, von Schulen und aufgrund wachsender Standortnachteile zum Teil auch Unternehmen als Arbeitgeber, wodurch die Lebensqualität empfindliche Einbußen erleiden kann.
BWagrar: Gleichwertige Lebensverhältnisse sind nicht erst seit dem Bericht der gleichnamigen Kommission vom Juli 2019 in der Diskussion. Plädieren Sie zur Hilfe zur Selbsthilfe oder zur Intervention des Staates, um möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land zu gewährleisten?
Doluschitz: Die Stärkung ländlicher Räume und damit auch die Funktionspotenziale für dort ansässige Unternehmen, insbesondere Kredit- und ländliche Genossenschaften, sowie deren Multifunktionalität geraten immer deutlicher in den Fokus der ländlichen Entwicklungspolitik der EU. Dennoch gelingen aufgrund knapper kommunaler Kassen und insgesamt begrenzter öffentlicher Mittel die Finanzierung und Implementierung von Gegenmaßnahmen zur Aufrechterhaltung einer umfassenden Infrastruktur äußerst schwer oder allenfalls mit großem Zeitverzug gegenüber entsprechenden Entwicklungen in Ballungsräumen.
„Um die Lebensqualitäten anzunähern, sind Eigeninitiative und Konzepte zur Erhöhung der lokalen Wertschöpfung gefragt.“
Um überhaupt eine Annäherung der jeweiligen Lebensqualitäten zu ermöglichen, sind Eigeninitiative und passfähige Konzepte zur Erhöhung der lokalen Wertschöpfung gefragt. Besonders genossenschaftliche Kooperationsformen als Einrichtungen der Hilfe zur Selbsthilfe mit demokratischer Unternehmensverfassung und flexiblen Mechanismen der Mitgliederbewegung bergen hierbei Potenziale für eine vertrauensvolle und gleichberechtigte Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure.
Genossenschaften sind aufgrund ihres spezifischen Rechtsformprofils und ihrer Untermauerung durch ehrenamtliches Engagement gerade deshalb besonders gefragt, weil sie aufgrund ihrer gesetzlichen Grundlage und der Orientierung an tradierten Werten über ein hohes Identifikationspotenzial verfügen. Dieses kann sehr gut zur Bündelung verteilter Interessen – wie wir sie gerade in ländlichen Räumen vorfinden – und zur Stärkung des Zusammenhalts genutzt werden. Darüber hinaus lassen sich in Genossenschaften vergleichsweise einfach Risiken streuen, die insbesondere beim Beschreiten neuer Geschäftsfelder gegeben sein können. Zudem kann die Pflichtprüfung durch den Genossenschaftsverband als Stabilisierungsinstrument und zur Frühwarnung genutzt werden.
BWagrar: Was ist zu tun, um die Daseinsvorsorge, beispielsweise die medizinische und Lebensmittel-Versorgung, Bildungseinrichtungen und Kindergärten, aber auch kulturelle Angebote, Sport- und Freizeitmöglichkeiten sowie die IT-Versorgung auf dem Land auch zukünftig zu gewährleisten?
Doluschitz: Die Lösung liegt meines Erachtens in einer effizienten Kooperation zwischen öffentlichen Trägern und Selbsthilfeorganisationen, wie etwa Genossenschaften.
Was dabei den genossenschaftlichen Part angeht, bleibt im Fazit festzuhalten, dass gerade bei genossenschaftlichen Neugründungen zur Übernahme von Funktionen in ländlichen Räumen Mitglieder besonders gefordert sind, ihre Genossenschaft als mündige, unternehmerisch denkende Individuen zu nutzen, sie als „Kritische Freunde“, externe Impuls- und Feedback-Geber mit strategischem Blick auf die Geschäftspolitik zu begleiten und sich aktiv dadurch zu beteiligen, dass durch ehrenamtliche Mitwirkung in den Organen auch Verantwortung übernommen wird.
Solche Mitglieder bilden in geradezu idealer Weise das belastbare Rückgrat jeder leistungsstarken Genossenschaft. Deren Mitglieder profitieren wiederum durch wirtschaftliche und vielfältige anderweitige Vorteile sowie durch Stärkung ihres eigenen Leistungsvermögens .
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